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Bericht

Winter 1991

Die Teilnehmer der Expedition sind Gäste der Kooperative

"Tolbatschik", einer Genossenschaft hervorgegangen aus Mitarbeitern

des "KRONOTZKIJ - Naturschutzgebietes", welche Voraussetzungen für Expeditionen und Touristen auf Kamtschatka schafft.

Die in der Kooperative zusammengeschlossenen Jäger, Umweltschutzinspektoren, Fischinspektoren, Waldarbeiter und wissenschaftlichen Mitarbeiter verschiedener Einrichtungen schaffen sich ihre eigene Infrastruktur. Sie bauen Hütten und Brücken in abgeschiedenen Gegenden, erschließen heiße Quellen und versuchen den Ausfall finanzieller Mittel aus Moskau durch Kontakte mit ausländischen wissenschaftlichen und touristischen Einrichtungen auszugleichen.

Nach der Landung in Petropawlowsk-Kamtschatsk fahren wir ins zentrale Kamtschatka-Tal nach MILKOWO. In gewisser Weise stellt Milkowo das kulturelle Zentrum Kamtschatkas dar. In früher Zeit nahmen Erkundungsexpeditionen hier ihren Anfang; hier trafen Russen, Kosaken und verschiedene einheimische Stämme intensiv zusammen.

Hier lernte man gemeinsam leben.

Auf einem Feld in der Nähe von ATLASOWO warten wir mit unserer gesamten Ausrüstung und 4 Schneemobilen mit Schlittenanhängern auf den Hubschrauber. Die Maschine vom Typ Mi8 (der wohl robusteste und zuverlässigste Helikopter seiner Klasse) der Fernöstlichen Aeroflot öffnet seine Heckladeluken und Benzinfässer, Materialen und Motorschlitten verschwinden in seinem Bauch. Und schon fliegen wir in Richtung Kronotzkij-Naturschutzgebiet.

Die Berge beginnen und damit das Revier unserer Jäger. Hier kennen sie jeden Winkel. Seit vielen Jahren leben sie auf der Jagd nach Pelztieren jeden Winter in dieser Einöde ohne Ansiedlungen, ohne Menschen.

Nur auf sich gestellt verbringen die Jäger so viele Monate.

Der Helikopter schraubt sich über einen Pass und unseren Blicken öffnet sich ein riesiges Tal. Wir drehen vor einem Vulkan ab und gehen schnell in einem kleinen Tal nieder. Zu Füßen des tätigen Vulkans KISIMEN erstreckt sich das Tal der LEVAJA TSCHAPINA.

Hier entsteht ein Depot für den beschwerlichen Rückweg.

Aber jetzt ist unser Ziel ein anderes. Wir heben mit dem Helikopter ab und streben einer Hochebene zu. Von hier aus soll unsere abenteuerliche Schlittenfahrt beginnen.

In einem kleinen Tal leben rentiertreibende Kamtschadalen.

Die Nacht werden wir in ihrer zum gößten Teil mit Schnee bedeckten Jurte verbringen. Durch einen längeren Gang, in dem Brennholz an den Wänden gelagert wird, gelangt man ins Innere des Zeltes. Die Energieversorgung übernimmt ein kleiner Benzingenerator in einer Technikhöhle nebenan.

In der Jurte wohnt eine Familie, aber Gäste sind stets ein freudiges Ereignis und von den Kamtschadalen ersehnt. Den ganzen Winter leben sie hier, oft auch noch im Sommer, obwohl die Familie in Milkowo ein schönes Haus bekam. Aber ihr Leben ist hier, in der Natur. Die Kamtschadalen sind möglicherweise glücklicher als viele Menschen in unserer hochzivilisierten Welt.

Natürlich leben sie einfach, doch gewissermaßen im Einklang mit der Natur.

Die Männer folgen der Herde, betreuen die Tiere und sorgen für Brennmaterial und die Verbindung mit der Stadt.

Sie dagegen kümmert sich um ihr Zuhause und die Kinder. Die Frauen sind der gute Geist der Familien.

In der Mitte der Jurte steht ein eiserner Ofen, heizt und dient als Kochstelle. Um ihn herum spielt sich das wärmere Leben der Leute ab. Unter der Decke hängen trocknende Sachen, gegessen wird erhöht auf dem Fußboden.

Der kleine Sohn der Familie hat zwei Väter:

Wenige Tage vorher war der zweieinhalbjährige Knirps allein ausgerückt, die Welt zu erkunden. Diese Exkursion endete unter dem Eis eines kleinen Teiches.

Als die Eltern sein Fehlen bemerkten, suchten sie fieberhaft gemeinsam mit unserem Jäger Wowa. Er bemerkte das Loch im Eis, stürzte sich hinein und konnte den bewußtlosen schon völlig blauen Kleinen bergen. Wie besessen machte er Wiederbelebungsversuche ... und holte den Kleinen ins Leben zurück.

Wowa schenkte ihm das zweite Leben.

Doch schon untersucht der Knirps furchtlos seine Welt weiter.

 

Rentiere

Etwas abseits steht das kleine Zelt zweier junger Jäger. Sie kümmern sich um eine riesige Herde von Rentieren. Uns ist noch nicht klar, ob es Wild- oder Haustiere sind. Der Unterschied scheint zu verwischen. Einige Tiere sind unter Obhut des Menschen geboren und gliedern sich dann wilden Herden an. Andererseits schließen sich auch wilde Tiere immer wieder domestizierten Herden an.

Am Ende leben die Herden wesentlich unabhängig vom Menschen. Sie wandern, suchen sich ihre Winter- und Sommerplätze, gebären ohne menschliche Hilfe ihre Jungen ... sie leben unberührt wie Wildtiere.

Der Mensch begleitet sie nur. Von Haustieren nimmt er Milch, andere fängt und tötet er zur Fleischgewinnung. Er beobachtet und reguliert. Wenn nötig hilft er, um bei Krankheiten und Seuchen den Bestand zu erhalten.

 

Habt ihr schon mal Rentierfleisch gegessen?

Wir verneinen.

Die Dimension dieser Antwort verstehen wir erst später.

 

Heute nachmittag werden wir mit ihnen die Herde besuchen . Wir bereiten die Motorschlitten vor und dürfen üben. Diese Tour wird die Generalprobe. Noch können wir ändern, noch können wir zurück.

Die nächsten Stunden sind der Gebinn einer innigen Beziehung zsischen unseren Schlittenführern, unseren Jägern und uns. Wir stimmen uns aufeinander ab. Sie wissen, was sie uns zumuten können, wir wissen, wann wir abspringen, schieben oder wieder aufspringen müssen, um im hohen Schnee und an Hängen das Weiterfahren zu sichern.

Tradiditionell besteht die Kleidung aus Materialien von Rentieren und anderen erjagten Tieren. Die Stiefel sind leicht und relativ dünn, doch sehr warm. Einer unserer Expeditionsteilnehmer hatte in reichlich teuren Expeditionsschuhen stets kalte Füße.

Ein Jäger schenkte ihm solche Rentierstiefel - sofort waren seine Füße warm. Wir konnten nicht begreifen, wie dies möglich ist und fragten, wieso dieses dünne Beinfell der Rentiere so warm sein kann. Antwort: Die Rentiere frieren auch nicht - sie werden schon wissen warum.

Rentier-Fleisch

Am nächsten Tag "satteln" wir unsere Motorschlitten, die Russen nennen sie "Buran" (Schneesturm), und ab geht unsere erste Fahrt. Bei herrlichen Wetter mit Sonnenschein durchqueren wir mehrere kleine Seitentäler und erreichen ein baumloses Hochplateau. Und dann ist es so weit. Am Horizont bewegt sich eine riesige braune Masse - eine Rentierherde. Es sollen über tausend sein, gezählt haben die Hirten wohl schon lange nicht mehr. . .Ganz ernst nahmen

wir sie nicht, die Ankündigung, dass sie uns zu Ehren ein Ren

fangen wollen. Mitten in der tosenden Herde wirft ein Hirte sein Lasso... und bremst den Lauf eines stattlichen Tieres. Noch ahnen wir nicht, dass es unsere Verpflegung der nächsten Tage werden soll. Zerlegt und ausgenommen wird das geschlachtete Tier über Nacht zur Tiefkühlung in den Schnee gelegt. Die Hunde!? Sie nehmen nur, was ihnen ausdrücklich gegeben wird. Unsere kommenden Malzeiten: Tiefgefrorenes rotes Fleisch wird in Stücke gehackt, im heißen Kohlensäurequellwasser gewaschen und sogleich gekocht, gebraten...

So natürlich und wohlschmeckend haben wir wohl alle noch nicht gegessen.

Unsere Jäger sind brilliante Künstler auf den Motorschlitten: Durch die Weite von Eis und Schnee ziehen Burane ihre Spur. Tage in eisiger Einöde. Alle Hoffnung liegt auf dem kleinen Zweizylinder-Zweitakter des Motorschlittens. Es ist sehr kalt, dafür aber herrliche Fernsicht.

Auf dem Gebirgskamm (höher wollen wir mit den Motorschlitten nicht hinaus) durchdringt der klirrende Hauch selbst die dickste Kleidung. Die Jäger auf den Motorschlitten werden recht warm von der Anstrengung, doch wir sitzen nur auf den gezogenen Schlitten.

Wir nähern uns über den Gebirgspass dem Tal der LEVAJA TSCHAPINA mit dem Vulkan KISIMEN. Nach der Abfahrt ins Tal schützen ausgedehnte Wälder vor den kalten Winden. Mit der Landschaft ändert sich auch das Wetter. Die Temperaturen liegen nun ungewöhnlich hoch. Dadurch und durch die einfließenden heißen Quellen brechen die Flüsse auf und wir verlieren durch Umwege viel Zeit. Hoffentlich reicht unser Benzin. Erst im Tal der Tschapina werden wir vom Hubschrauber abgesetzte Fässer vorfinden.

Obwohl die Jäger viele "interessante" Brücken bauten, manche Furt ist nur äußerst schwierig und mit gegenseitiger Hilfe zu bewältigen.

Endlich sind wir am Ziel. Kleine Holzhütten werden unser Heim. Im Hintergrund der Vulkan KISIMEN. In seiner Nachbarschaft verbringen wir herrliche Tage. Für einen Aufstieg zum Spaltenkrater sind wir leider für den Winter viel zu schlecht ausgerüstet und vorbereitet.

Bei Ausflügen erkunden wir die nähere Umgebung und stellen fest, dass beinahe alle Bäche warm sind.Wir leben auf einem heißen Flecken Erde. Nicht weit von unseren Holzhütten sickert aus den Berghängen heißes Wasser. Selbst bei größter Kälte friert das kleine Bächlein nicht ein. An den Rändern halten sich einfache Pflanzen, Flechten und Algen.

Die heißen Quellen im Tal der Tschapina haben unterschiedliche Zusammensetzung und sind verschieden heiß. Inwieweit entsprechende Untersuchungen über die Heilwirkung dieser Thermalquellen vorliegen ist uns nicht bekannt. Die Jäger betonen nur immer wieder, dass man nicht oft genug diese Quellen zum Baden nutzen kann. Je heisser, desto besser. Allerdings: Nie zu lange, denn die enthaltenen Mineralien und Säuren greifen dann die Haut an. Außerdem kann die hohe Temperatur zu Kreislaufbeschwerden führen. Soweit die "Spezialisten".

Wieder fiel nachts Schnee und die Umgebung, unsere Hütten und die Schlitten sind tief verschneit. Doch wir müssen unbedingt vor dem Frühstück ins "Bad", diesen Genuss wollen wir uns nach den Schlafsäcken nicht entgehen lassen. Wie ein Wunder in dieser Einöde wirkt das "Thermalbad". Bis 42° C mitten in Schnee und Eis. Nach den letzten Tagen durchgefroren auf den Schlitten, was kann es noch Schöneres geben. Wer hätte das in dieser Wildnis erwartet.

Die eisernen Öfen unserer Hütten brauchen Holz.

Trockene Bäume werden gefällt und mit den Schlitten zu den Hütten transportiert.

Unsere drei Jäger/Motorschlittenpiloten:

Nach herrlichen Tagen heisst es Abschied nehmen. Der Rückweg bis zur ersten Forststation im Tal des Kamtschatka-Flusses wird zu einer großen Strapaze. Plötzlicher Witterungsumschlag, Schnee und Stürme lassen die Sicht auf ein Minimum sinken. Nur den Ortskenntnissen unserer Jäger ist es zu verdanken, dass wir zurückfanden. Besonders auf den unbewaldeten Hochebenen stand es mit unserer Orientierung schlecht. Lange irrten wir im Schneesturm umher. Mehrmals mussten die Motorschlitten vom Schnee befreit werden. Der Schneesturm peitschte allen ins Gesicht. Oftmals war der voranfahrende Schlitten nicht mehr auszumachen. Endlich fand sich eine Hütte auf einem Pass - Schutz und Orientierung für alle. Nun ging es bergab und bald begann die schützende Taiga. Im Tal angelangt, herrschte herrlicher Sonnenschein. Niemand wollte glauben, welche Schwierigkeiten uns der Rückweg bereitete. An der Forststation blieben die "Burane" zurück und mit einem geländegängigen LKW-Bus kehrten wir zur Station bei Atlasowo zurück. Kurz vor Atlasowo müssen wir den Kamtschatka-Fluss überqueren. Im Sommer verkehrt hier eine Fähre. Doch wenn der Fluss von einer ausreichend dicken Eisschicht bedeckt ist, bauen Forstarbeiter für den Transport geschlagenen Holzes eine hölzerne Brücke auf dem Eis. Im Frühjahr zerstört das aufbrechende und treibende Eis dann jedes Jahr die Brücke. Anfang Winter entsteht dann eine neue. Es gibt nicht nur Eintagsfliegen, es gibt auch Einjahresbrücken.

Im Tal der Kamtschatka war die Temperatur schon beinahe frühlingshaft angestiegen. Auch das Eis in der Nähe der Brücke begann zu tauen und erste freie Wasserflächen erschienen. Die Tage der Brücke sind gezählt. Wir brauchten sie schon nicht mehr, denn unsere Reise führt zurück nach PETROPAWLOWSK-KAMTSCHATSK, der "Hauptstadt" des Gebietes Kamtschatka.

Das VULKANOLOGISCHE INSTITUT in Petropawlowsk ist weltweit bekannt. Hier auf Kamtschatka bestehen ideale Forschungsmöglichkeiten, denn Vulkanausbrüche und Erdbeben sind in dieser sehr aktiven Zone der Erde relativ häufig. Bei einem Vortrag im Anschauungs- und Museumsraum des Institutes konnten wir viel über Vulkanismus erfahren. Eindrucksvoll sind die Filme über die Ausbrüche, besonders des Tolbatschik von 1975/76. Dieser Ausbruch wurde von sowjetischen Vulkanologen genau vorausgesagt. Viele Wissenschaftler aber auch Kameraleute und Journalisten waren angereist. Sie wurden nicht enttäuscht - es wurde ein gewaltiger und langanhaltender Spaltenausbruch mit vielen neuen Kratern. Heute dient dieses Gelände u. a. als Testgebiet für Mond- und Marsfahrzeuge.

Ein letztes Mal genießen wir die Vorzüge Kamtschatkas in einem Thermalbad. Etwas wehmütig besteigen wir die Aeroflot-Maschine, die uns nach Moskau bringen wird. Doch wir wissen, wir werden zurückkehren. Kamtschatka lässt einen nicht mehr los.